Eine schwache Stunde

 

Sie hatte doch nur einen Tag vergessen die Pille zu nehmen, das heißt nicht einmal einen Tag, wenige Stunden zu spät, aber diese wenigen Stunden steigerten ihre Nervosität ins Unermeßliche. Zum x-ten Mal begann sie nachzurechnen. Es war letzten Donnerstag. Er kam mittags zu ihr, „auf einen Kaffee“, wie er das nannte wenn er sich tagsüber eine Stunde freimachen konnte. Flüchtig, nur so im Vorbeigehen, aber er war dennoch da und es war wie immer.

 

Wenn sie nicht so ärgerlich wäre müßte sie lachen. Eine schwache Stunde, wie abgedroschen, aber es war wirklich eine kurze stürmische Liebe, während der Kaffee kalt wurde, dann ein zärtlicher Kuß, vielleicht als Entschuldigung für die Eile oder aus Dankbarkeit für ihr Verständnis. Ein Blick auf die Uhr, eine Zigarette und dann das Knallen der Eingangstür. Sie hatten selten einen ganzen Abend, niemals eine Nacht. Alle Sehnsüchte und alle Leidenschaft wurden in diese knappen Stunden gedrängt, die sie nie vorausberechnen konnte.

 

Und letzten Donnerstag war er da, und am Abend darauf hatte sie vergessen die Pille zu nehmen. Das passierte ihr eigentlich nie, und umso ärgerlicher war sie bei dem Gedanken, warum gerade Donnerstag. Freilich wußte sie, daß sie dieses Versäumnis Freitag früh gefahrlos nachholen hätte können, aber als sie draufkam war sie im Büro, und die Schachtel mit den rettenden Dingern, die lag daheim, verdammt noch einmal. Sie spürte damals schon eine Wut in sich aufkommen, daß diese paar Stunden oder die Unmöglichkeit einfach nach Hause zu fahren, so wichtig werden könnte. Den ganzen Vormittag marterte sie sich, und als sie dann endlich heimkam zählte sie die Stunden die sie Verspätung hatte und dachte es müßte reichen, irgend eine Toleranz würde es schon geben, und so beruhigte sie sich und allmählich vergaß sie die ganze Sache.

 

Aber jetzt war sie wieder da, diese grauenvolle Ungewißheit, dieses Nachrechnen und Überlegen. Längst hatte sie die Beschreibung des Medikamentes auswendig gelernt und sich immer wieder vorgesagt, daß diese paar Stunden ein derart minimales Risiko darstellten, daß ihre Befürchtungen eigentlich lächerlich waren. Seit drei Tagen sollte sie die Regel haben und seit drei Tagen - nichts, ein zermürbendes Warten, eine sich ständig steigernde Angst und ein unermeßlicher Zorn auf sie selbst hatten in zunehmendem Maß von ihr Besitz ergriffen. Sie wußte bei der Pille gab es keine Unregelmäßigkeiten, keine Verzögerungen, alles war vorprogrammiert und lief nach strengem Rhythmus ab. Sie wußte auch, daß die Regel einmal ganz ausbleiben konnte, das war ihr vor Jahren einmal passiert, aber da dachte sie sich nichts dabei, damals war sie sicher sie regelmäßig eingenommen zu haben, und außerdem war sie noch verheiratet und noch eine Kind zu bekommen hätte keine Katastrophe ausgelöst. Aber jetzt war da dieser verdammte Donnerstag, das heißt das war ungerecht, denn eigentlich war es ja sehr nett, und er konnte schließlich nichts dafür, er hatte sich immer auf sie verlassen, und das konnte er auch, aber das half ihr jetzt auch nicht weiter. Was tun? Zunächst kauerte sie sich in die letzte Ecke der Sitzgarnitur, zog die Beine an und stützte den Kopf auf die Knie, bis sie der irrsinnige Gedanke erfaßte, lange könne sie vielleicht nicht mehr so sitzen, dann wäre der Bauch im Wege. Hastig ließ sie die Beine aus, als ob sie es jetzt schon spürte, um sich gleichzeitig über ihre eigene Dummheit zu ärgern. „Das macht mich wahnsinnig, das macht mich fertig, das halte ich nicht aus, was tun?“ Immer wieder derselbe Kreislauf, als könnte schon der Gedanke an die Möglichkeit ein Kind zu bekommen sie völlig aus dem Gleichgewicht werfen. Drei Tage, wie sollte das weitergehen. Sie konnte doch mit diesem Problem noch keinen Arzt aufsuchen, außerdem war sie sich nicht einmal einig mit sich selbst, was schlimmer sei, die Gewißheit oder noch das winzige Fünkchen Hoffnung, es wäre ein Zufall, alles würde sich auflösen, und es wäre nichts passiert.

 

Jetzt konnte sie nichts tun, nur warten. Gott sei Dank nahm sie üblicherweise ihre Arbeit, der Haushalt und ihre Tochter so gefangen, daß ihr keine Zeit zum Grübeln blieb. Aber diese halben Stunden vor dem Einschlafen, diese kurzen Minuten zwischendurch, die man eine Zigarette raucht, oder wenn die Reklame im Fernsehen läuft, die dann noch taktvoller Weise besonders saugkräftige Windeln anpreist, die ließen ihre Gedanken rotieren. Sie war wie ausgewechselt, obwohl sie sich die größte Mühe gab ruhig und ausgeglichen zu wirken. Aber das war nichts Außergewöhnliches. Seit ihrer Scheidung, seit die Tochter ins Gymnasium ging, seit sie sich mit allen finanziellen und häuslichen Problemen alleine herumschlagen mußte und ganz besonders seit sie die Geliebte eines verheirateten Mannes geworden war, war man gewohnt, daß sie depressive Phasen zu überstehen hatte, man fragte gar nicht mehr lange, schließlich vertraute sie sich sowieso niemandem so ganz an, und man nahm sogar eine gewisse Rücksicht darauf. Eine Rücksicht, zum Teil aus dem Wissen, daß sie alle Tiefs schließlich doch überwunden hatte und zum anderen aus der Tatsache, daß geschiedene Frauen ja immer Probleme haben, und aus einer gewissen Resignation dieser Tatsache gegenüber.

 

Aber die Tage vergingen. Ihr Zustand wurde immer ärger. Zunächst hätte sie nach einer Woche Pause die Pille wieder nehmen sollen, auch wenn die Regel ausblieb, man konnte ja schließlich nicht schwanger werden, so stand es zumindest in der Beschreibung. Aber da war dieser Donnerstag. Als sie die neue Packung in die Hand nahm, starrte sie eine Weile hilflos auf die 21 orangefarbenen Winzigkeiten, denen eine solche Bedeutung zukam, daß sie in das Leben der Menschen einschneidender eingreifen konnten als vielleicht je eine Erfindung davor. Dann packte sie ein wilder Zorn und sie schleuderte diese Schachtel ins letzte Eck des Schrankes, obwohl diese natürlich absolut nichts dafür konnte, aber wer denkt schon an so etwas. War sie schwanger, würde sie sie sowieso nicht mehr brauchen, war sie es jedoch nicht, so wolle sie mit keinem Mann mehr schlafen. „Ätsch“, dachte sie aus einem kindischen Trotz heraus, „dann habt ihr mich verloren, ihr Männer dieser Welt. Für immer verloren als Rache für diese Stunden, für diese Tage, für diese Qualen, die ich ausstehen mußte und vielleicht sogar als Rache, daß ihr uns trotz aller Gleichberechtigung das Kinderkriegen überläßt und dafür daß ihr die Pille erfunden habt, durch die ihr euch von der letzten Verantwortung drücken könnt.“ Sie war ganz sicher, daß die Pille nur von Männern erfunden worden sein kann, denn erstens erfinden Männer sowieso alles und zweitens dient sie schließlich in erster Linie ihnen selbst. Dabei dachte sie in ihrer Lage zwangsläufig nur an nicht zu zahlende Alimente, und nicht an den Wunsch eines normalen Ehemannes nach einem eigenen Kind, nicht an die Macht, die sie damit in der Hand hatte und nicht an die Annehmlichkeiten, die sie ihr und vielen anderen Frauen schon eingebracht hatte. Vielleicht wollte es der Zufall, daß sie in diesen Tagen ihren Freund nicht zu Gesicht bekam, und so hatte sie Zeit genug darüber nachzudenken was sie ihm sagen müßte. Und sie begann auch zu überlegen, was er antworten könnte, und wie er reagieren müßte. Dies führte sie in endlose Dialoge mit sich selbst, in denen sie alle Variationen bis ins kleinste Detail durchspielte, schwulstige Sätze formulierte, ihm Sätze in den Mund legte, die sie entweder zu hören wünschte oder besonders fürchtete. Bis sie schließlich zu dem entsetzlichen Schluß kam, daß es ganz egal wäre wie er sich verhielt. Er hatte durch die verzwickte Situation in der sie sich befanden nicht die geringste Chance Vater dieses Kindes zu werden.

 

Jede Diskussion begann mit dem einfachen Satz: „Ich bekomme ein Kind!“ Jetzt hatte er die Möglichkeit zu antworten: „Damit mußten wir rechnen, das kann schon einmal passieren, aber mach’ dir keine Sorgen, ich weiß was ich zu tun habe. Ich werde mich scheiden lassen, und wir werden heiraten. Im wievielten Monat bist du? Wieviel Zeit haben wir noch?“ Das war das Einfachste, das Natürlichste, aber sie haßte diese Variation. Sie schleuderte ihm zornig ins Gesicht: „Für mich hättest du dich nicht von deiner Frau getrennt, das war ich dir nicht wert, dazu warst du zu feige. Für das Kind würdest du es tun, weil du keines hast und mit deiner Frau auch keines mehr bekommen wirst. Der Jüngste bist du auch nicht mehr, und vielleicht ist es deine letzte Chance zu einem eigenen Kind zu kommen. Aber nicht mit mir, mein Liebling, ich lasse mich nicht nur wegen eines Kindes heiraten. Ja, wenn du es früher getan hättest einfach so, nur für uns, aber so - nein, und nochmals nein, nicht weil ich schwanger bin, ich hab’ schließlich auch einen Stolz!“ Und sie ergoß sich in abgedroschenen Banalitäten, die man einem Mann bei solcher Gelegenheit an den Kopf wirft. „Aber ich habe ein Recht auf das Kind, es ist doch auch meines.“ „Einen Schmarren hast du ein Recht darauf, das hättest du dir früher überlegen müssen, jetzt ist es zu spät. Wir haben es beide nicht wollen, es war ein Zufall, und kein Mensch hat das Recht auf einen Zufall.“

 

Dies war also keine Möglichkeit, sie konnte doch nicht einfach sagen: „Ja, Liebling, heiraten wir schnell, machen wir in Familie.“ Das hätte sie nach der ersten Liebesnacht vielleicht noch geschafft, wenn es ihr alleine gegolten hätte. Aber das hat er nie beabsichtigt, und sie war sich dessen immer voll bewußt. Und jetzt wegen des Kindes? Jetzt erst recht nicht, das würde sie sich nie verzeihen.

 

„Schön,“ sagte er etwas gekränkt, vielleicht auch nur erleichtert, denn schließlich war er von Natur aus kein Held, was die langen Monate bewiesen, die er sich heimlich zu ihr schlich, ihr einredete, daß er nur sie liebe, und daß ihm seine Frau schon lange nichts mehr bedeutet, ohne jemals den Mut aufzubringen diese Lage zu ändern, von sich aus und ohne Zwang. „Wenn du mich also durchaus nicht heiraten willst, was dann? Natürlich werde ich für das Kind einstehen, ich werde dir helfen wo ich nur kann, ich werde mich um mein Kind kümmern. Wir werden das schon irgendwie schaffen.“

 

„Einen Dreck werden wir es schaffen, ich werde es schaffen müssen. Glaubst du denn im Ernst, du hättest nur den geringsten Anteil an diesem Kind, glaubst du ich ließe es zu, daß du sonntags kommst und sagst, so mein Kind dein Vater kümmert sich um dich und so weiter. Daß du es an der Hand nimmst, spazieren führst, ihm in die Augen schaust und dann ganz einfach wieder nach Hause gehst zu deiner Frau? Glaubst denn du, daß ich das zulassen würde? Ich pfeife auf dein Kümmern, es ist mein Kind, und du wirst es nicht einmal zu Gesicht bekommen. Wie soll ich ihm denn einen solchen Vater erklären? Da ist es besser, es hat gar keinen, und wenn ich angeben muß - Vater unbekannt - was willst du dagegen tun? Wie willst du denn beweisen, daß es von dir ist, wenn ich es abstreite?“

 

„Scheiße“, sagte er, oder so etwas Ähnliches. „Dann ist es wohl am besten du läßt es wegmachen. Vielleicht ist das wirklich die beste Lösung für uns alle. Natürlich werde ich für die Kosten aufkommen“. „Geld, das ist wohl das Wichtigste, aber damit kann man nicht alle Probleme aus der Welt schaffen. Glaubst du denn, ich lasse mir ein Kind abtreiben? Kennst du mich so schlecht, konntest du das nur eine Sekunde in Betracht ziehen? Was bist du nur für ein Mensch?“ Und sie war ihm eine Reihe ungerechtfertigter Vorwürfe an den Kopf, Vorwürfe die eigentlich gar nicht ihm galten, sondern dieser verdammten Situation im allgemeinen, diesen verdammten paar Stunden Vergeßlichkeit, der Zeit die keine Moral mehr zu haben schien, der Pille die diese irren Verhältnisse erst ermöglichte, aber vor allem ihrer eigenen Unzulänglichkeit irgend etwas sinnvoll zu verändern.

 

Es gab also keine Möglichkeit. Fast tat er ihr wieder leid bei dem Gedanken, daß er keine Chance hatte zu seinem Kind zu kommen. Aber dann traf sie die schmerzliche Erkenntnis, daß es völlig egal sei, wie er reagierte, daß sich für sie absolut nichts ändern würde, daß es also völlig sinnlos sei mit ihm darüber zu reden, daß es in jedem Fall das Ende ihrer Beziehung bedeuten würde.

 

Als sie sich langsam mit ihrer Lage abzufinden schien, traf es sie wie ein Schock, daß sie drei Tage nach der Einnahme eines bestimmten Medikamentes ganz normal die Regel bekam. Alles umsonst, die ganzen Qualen der letzten Wochen, alle Gedanken, alle nie stattgefundenen Diskussionen. Aber plötzlich wurde ihr mit aller Deutlichkeit bewußt, daß sie ihn nie besser kennen gelernt hatte, als in dieser Zeit, da sie ihn nie gesehen hat. Die ganze Erbärmlichkeit ihres und seines Verhaltens, die ganze Würdelosigkeit ihrer Situation, alles das was sie einander sagen hätten können, wenn das Schicksal diesen Streich ernst gemeint hätte. Ihr graute davor ihn wiederzusehen, ihn zu küssen und ihn zu lieben, als wäre nichts geschehen.

 

Noch am gleichen Abend schrieb sie ihm einen Brief mit der Bitte, sie nicht mehr zu besuchen, ohne Begründung, einfach so. Nie würde er die Wahrheit begreifen, nie ahnen was sie zu diesem Schritt veranlaßt hat. Im Nachhinein klingt alles so blödsinnig. „Ich liebe dich nicht mehr, weil ich die Pille ein paar Stunden zu spät genommen habe!“

© sarah66