Gelber Raps

 

Als ich diese Reise das erste Mal geplant hatte, war mein Mann noch am Leben. Es sollte unsere erste „open-end-Reise“ nach seiner Pensionierung werden. Er hat es nicht mehr erlebt.

 

Ein Jahr nach seinem Tod, als ich endlich entschieden hatte, das Wohnmobil zu behalten und alleine weiter zu fahren, plante ich über den Winter diese Reise noch einmal. Ich wollte diese Reise zwischen Ostern und Pfingsten antreten. Aber es kam dann doch ganz anders. Nach Ostern war das Wetter extrem schlecht, ich musste diese Fahrt verschieben, aber dann wurde die Zeit zu knapp. Also wurde es nichts aus meiner geplanten Norddeutschlandtour.

 

Im Herbst machte ich einen dritten Anlauf für diese Reise im darauffolgenden Frühjahr. Es ist mir fast egal wie die Wetterprognose ist, ich dachte wenn ich es jetzt nicht schaffe, dann fühle ich mich als Versagerin. Also fahre ich ganz einfach einmal los.

 

Und dann fahre ich über die tschechische Grenze. Ganz verschiedene Gefühle nehmen mich gefangen. Da ist doch immer noch irgendwo im Verborgenen der „Eiserne Vorhang“.  Mehr als mein halbes Leben war da einfach die Welt zu Ende, nie hätte ich geglaubt, dass wir jemals wieder ein geeintes Europa erleben könnten und noch weniger, dass ich da einfach ohne Passkontrolle über diese Grenze fahren kann. Da ist dann auch die Erinnerung, kurz nach der Öffnung einmal hier gewesen zu sein. Damals wollten wir – mein Mann und ich - zu den Moldaustauseen, wir hatten ein komisches Gefühl, als wären wir in ein „verbotenes“ Gebiet eingedrungen, es war noch zeitlich in der Saison und rundum hatte alles geschlossen. Die ganze Gegend wirkte triste und grau. Sehr bald kehrten wir um. Danach war mein Mann nie wieder dazu zu überreden nach Tschechien zu fahren.

 

Eine meiner ersten „Allein-Fahrten“ führte mich auch noch einmal nach Tschechien, aber auch damals war es eher eine Enttäuschung.

 

Ich spürte dieses Gefühl ganz deutlich während ich alleine mit meinem Wohnmobil so zwischen gelb blühenden Rapsfeldern auf Landesstraßen dahinfuhr. Auch das war Tschechien.

 

Der Campingplatz in Pilsen liegt zwar sehr schön, aber er ist doch außerhalb der Stadt, und die Sanitäranlagen sind katastrophal.

 

Ich fahre am nächsten Tag weiter über die deutsche Grenze und kaufe mir im erstbesten Geschäft eine Sim-Karte für meinen Laptop. Für mich ist das Internet doch wie ein Fenster zur Welt und ich skype mit FreundInnen um mich nicht so ganz alleine zu fühlen. Da ist eine Freundin  in der Steiermark, die wahrscheinlich zu feige war um mit mir mitzufahren, und auch ein Bekannter aus Wien, der vielleicht gerne mitgefahren wäre, wenn ich ihn ernsthaft dazu eingeladen hätte, aber das habe ich dann doch nicht geschafft. Und da ist dann eine Reihe von mehr oder weniger belanglosen virtuellen FreundInnen, die so tun, als würden sie sich für mich oder meine Reisen wirklich interessieren.

 

Gelbe Rapsfelder, graue Wolken und auch leichter Regen. Endlose Kilometer alleine im Wohnmobil, alleine mit meinen Gedanken und mit meinen Träumen.

 

Ich schaue mir die Vogtlandarena an. Schispringen ist für mich schon etwas Gigantisches. Ich habe schon vor langer Zeit einmal den Kulm im Sommer gesehen. Den ganzen Winter fiebere ich mit unseren „Adlern“ mit.

 

Ein guter Freund hat mir geraten unbedingt nach Dresden zu fahren. Mit dem Umweg durch die  Besichtigung der Göltzschtalbrücke bin ich rund 300km auf Landesstraßen unterwegs, und ohne mein Navigationsgerät wäre ich wohl nie ans Ziel gekommen. Manchmal schaue ich zum Beifahrersitz und denke, was wäre wenn mein Mann jetzt noch leben würde. Einerseits bin ich mir nicht sicher, ob wir je wirklich diese Reise gemacht hätten, ob wir auch so spontan entscheiden hätten können doch noch über Dresden zu fahren, andererseits wäre ich nicht alleine. Sicher würde er die meiste Zeit doch neben mir am Beifahrersitz schlafen, das tat er fast immer, und ich wusste nie ob das ein Zeichen besonderen Vertrauens in meine Fahrkunst war, oder ganz einfach Langeweile. Aber im Gegensatz zu mir hatte er einen ausgezeichneten Orientierungssinn und konnte ja als Beifahrer auch noch während der Fahrt in eine Landkarte schauen. Seit ich alleine fahre spiele ich während der Fahrt Musik, ja manchmal dröhne ich mich einfach damit zu um die Einsamkeit zu übertönen, die sich dann doch immer wieder einmal einstellt.

 

Das Wetter ist heute besser, oft scheint sogar die Sonne und da singt Nana Mouskouri gerade „Die Welt ist voll Licht“.

Das Schlimmste am Alleine-fahren ist für mich dann immer nach einer langen anstrengenden Fahrt anzukommen und einen Stellplatz suchen, und all die Verrichtungen selbst machen zu müssen, die früher „Beifahrersache“ waren. Da gab es dann doch zunächst „ein Bierchen“ für den „Schaffler“ und ein bisschen Erholung.

 

Aber der Tag in Dresden zeigt mir dann wieder ganz deutlich, dass sich diese Mühe lohnt. Es ist eine wunderbare Stadt. Ich muss gestehen, dass ich sehr froh bin, dass es direkt vom Stellplatz aus Stadtrundfahrten gibt. Wir fahren mit einem Kleinbus und in rund drei Stunden sehen wir einmal alles was sich lohnt noch genauer besichtigt zu werden. Als ich dann mit dem Fahrrad noch einmal in die Stadt fahren wollte begann es leider stark zu regnen.

 

Am nächsten Tag ging es wieder weiter. Wieder fast 270km durch die ehemalige DDR. Stundenlang durch gelbe Rapsfelder, unzählige Windräder und immer wieder Ortschaften in denen liebevoll restaurierte Häuser und schmutzige, stillgelegte Industrieanlagen dicht nebeneinander auf die jüngere Geschichte dieser Gegend hinweisen. Ich bin zwar erst im letzten Kriegsjahr geboren worden, aber meine Erinnerungen an die zerstörte Stadt Wien, an die Besatzungszeit und die Zonengrenzen in Österreich sind doch noch sehr stark. Wie muss es hier gewesen sein? Fast siebzig Jahre sind seit damals vergangen, Jahre in denen wir in Österreich aufwuchsen, den Aufschwung erlebten und wohl nie mehr daran geglaubt hätten, dass die Trennung Europas jemals Geschichte sein könnte. Und wie schon so oft, denke ich an das Privileg wenige Kilometer VOR dem Eisernen Vorhang geboren zu sein. Nun gibt es den aber auch schon über zwanzig Jahr nicht mehr, und viele Spuren sind verschwunden, aber in meiner Seele ist noch immer so etwas wie ein Erstaunen, dass ich das doch noch einmal erleben kann. Vielleicht auch eine starke Triebfeder für diese Reise.

 

Ich fahre mit der Harzer Schmalspurbahn auf den großen Brocken, auch das war rund 30 Jahre aufgrund der innerdeutschen Grenze nicht möglich. Die Dampflok mit 700 PS plagt sich sehr auf dieser Bergstrecke, von Wernigerode bis zur Endstation in 1142m Höhe braucht sie fast zwei Stunden und muss zweimal Wasser nehmen. Ich denke jetzt ganz intensiv an meinen älteren Bruder, er war ein Eisenbahnfreak. Ich glaube in Österreich gibt es keinen Kilometer Schienen, keine Weiche und keinen Bahnhof, den er nicht gekannt hatte. Als Kind hatte er eine Modelleisenbahn und ich habe bei ihm als Mädchen einen „Lokführerschein“ machen dürfen. Damals musste ich bei ihm – er war gerade Elektriker-Lehrling bei der Firma Brown-Boveri, und das nur um sich seinen Kindheitstraum einmal wirklich Lokführer zu werden, erfüllen zu können, wozu es allerdings niemals kam - auch Theorieunterricht nehmen, ich musste z.B. einen Trafo erklären können, das Ohm’sche Gesetz auswendig lernen usw. Diesen handgefertigten Lokführerschein habe ich heute noch und auch wenn mein Bruder inzwischen schon viele Jahre nicht mehr lebt, hatte ich oft das Gefühl, ich mache diese Fahrt eigentlich für ihn, damit er das auch einmal erlebt hat.

 

Immer weiter geht es Richtung Norden. Die Landschaft ändert sich kaum. War es im Harz doch etwas bergig, so durchquere ich jetzt wieder endlose gelbe Rapsfelder, Zu den Windrädern gesellen sich jetzt auch große Anwesen mit riesigen Pferdekoppeln. Ich denke an die vielen Romane die ich über diese Gegend gelesen habe aber auch an die unzähligen Nachkriegsfilme, die das Schicksal der Menschen dieser Regionen darstellten.

 

Maykäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist im Pommerland.
Und Pommerland ist abgebrannt.

 

Ein uraltes Lied, mehrmals abgewandelt und für mich doch irgendwie eine Verbindung zwischen der Nachkriegszeit, der irrealen Vorstellung von dem, was da hinter der Mauer war, und schließlich …. „es gibt keine Maikäfer mehr“ (Reinhard Mey).

 

Am Sonntagabend lande ich in Bad Wilsnack. Es ist Muttertag. Eigentlich wollte ich ja zur Mecklenburger Seenplatte und dort ein paar Tage bleiben, aber es war ganz einfach kein Wetter zum Bootfahren oder für Schiffsrundfahrten, also entschied ich mich spontan die Kristalltherme in Bad Wilsnack zu besuchen. Muttertag, das hat mir solange etwas bedeutet, solange meine Mutter noch lebte. Auch sie hatte – wie die meisten Mütter – natürlich gesagt, dass sie keinen besonderen Wert darauf legen würde genau an diesem Tag gefeiert zur werden, aber ich hätte trotzdem nie darauf verzichtet. In meiner Kindheit hat mein Vater an diesem Tag Regie geführt, und wenn er auch, vielleicht ganz besonders an diesem Tag, daran dachte, dass seine zweite Frau, meine Mutter, seine drei Kinder aus erster Ehe mit ihrer Schwester, liebevoll und selbstlos großgezogen hat, und dass schon daher der Muttertag für unsere Familie eine besondere Bedeutung hatte. Meine Kinder hatte niemand dazu angeleitet für ihre Mutter vielleicht einen Kuchen zu backen oder ihr einen besonders schönen Tag zu bereiten, sie waren noch zu klein, als ihr Vater uns verließ.

 

Und weiter ging es durch endlose gelbe Rapsfelder. Irgendwann hatte ich es dann geschafft. Da waren die Ortstafeln von Stralsund und ich wusste jetzt bin ich an der Ostsee. Der bekannte Stellplatz unter der Rügenbrücke und irgendwie bin ich am Ziel.

 

Nach ein paar Tagen an der Ostsee fahre ich wieder Richtung Heimat. Und wieder fahre ich durch endlose gelbe Rapsfelder, wieder sitze ich alleine in meinem Wohnmobil und wieder machen sich meine Gedanken selbstständig. Wegen der schlechten Wetterprognose fahre ich nicht durch das Rheintal – wie geplant – sondern direkt über Magdeburg nach Süden.

 

Irgendwann komme ich durch Lundwigslust. Eine Ortschaft wie viele andere in dieser Gegend aber plötzlich kommt mir der Gedanke, hier hätte ich auch aufwachsen können. Es war die letzte Adresse meines leiblichen Vaters, die mir bekannt war, bevor er irgendeinmal als verschollen galt. Er hatte meiner Mutter mehrmals angeboten mich zu sich zu nehmen, damals auch noch in der Annahme diese Gegend würde von dem letztlich schon fast verlorenen Krieg verschont bleiben. Ich könnte bei seinen Eltern am Land aufwachsen und später hat er ja doch noch geheiratet, wenn auch nicht meine Mutter, und ich bekam noch zwei Halbgeschwister. Natürlich hat mich meine Mutter nicht hergegeben, und schon gar nicht als sie später den Mann ihrer verstorbenen Schwester geheiratet hatte um seine drei Kinder vor einem Leben in einem Heim zu bewahren. Wie hätte sie da ihr eigenes Kind einfach weggeben können. Wir hatten alle vier eine wunderschöne Kindheit in einem Land, das zwar noch zehn Jahre besetzt war, aber dann doch frei wurde und wir wuchsen in der Zeit des Aufschwungs gut behütet auf. Ich schaute auf jedes dieser Häuser in Ludwigslust, meist Ziegelbauten, oft auch liebevoll restauriert und ich dachte, in irgendeinem dieser Häuser lebten einmal Menschen, die meine Großeltern waren, irgendwo habe ich hier Wurzeln, und obwohl ich grundsätzlich nicht wirklich an so etwas glaube, hatte ich doch ein eigenartiges Empfinden.

 

In Ludwigslust hatte ich dann auch wirklich das Gefühl, zu wissen warum ich diese Reise unbedingt machen wollte. Ich war und bin auf der Suche nach mir selbst. Ich bleibe mitten im Ort einfach stehen, stelle den Motor ab und senke den Kopf auf das Lenkrad. Was im Leben ist Zufall, was ist Schicksal, was ist Bestimmung? Hätten meine leiblichen Eltern geheiratet, vielleicht wäre ich hier aufgewachsen, wie anders wäre mein Leben verlaufen

  

Irgendwann starte ich das Auto wieder und fahre weiter. Endlose gelbe Rapsfelder rechts und links der Straße, endlose Landesstraßen, endlose Gedanken.

 

Aber ich fahre dann einfach Richtung Heimat und ich fühle mich doch etwas besser, weil ich es geschafft habe, alleine an die Ostsee zu fahren. Am Beifahrersitz fährt mein Leben mit, alles das was es wirklich gab und alles das, was es hätte geben können. Auch du und diese letzte große Liebe in meinem Leben.