Gruppentherapie

 

Na ja, ich gehe dorthin, abgehetzt nach der Arbeit, unvorbereitet, vielleicht neugierig, einfach so wie man zu einem Arzt geht wenn man zwar nicht an Heilung glaubt, aber einfach um diesen Versuch nicht ausgelassen zu haben, oder mit der geringen Hoffnung, es könnte sich zumindest etwas bessern. Also gehe ich dorthin und treffe mich dort mit meiner Tochter, derentwegen ich eigentlich dorthin muß, weil sie mir Schwierigkeiten macht, oder ich ihr, oder wir einander, oder uns die Umwelt, oder wir der Umwelt, wenn wir nicht dorthin gehen. Es ist mehr ein Zufall, der Psychologe, der diesen Versuch macht, ist ein Freund meines Bruders, andere werden vielleicht von den wenigen aufgeschlossenen Lehrern dorthin verwiesen, wenn sie mit ihrem erlernten Latein am Ende sind, aber der Großteil aller Eltern, die sicher die selben Schwierigkeiten haben wissen nicht einmal von der Existenz einer solchen Möglichkeit und wenn ja, dann wird das alles letztlich so knapp vor Steinhof eingereiht, und eine ordentliche Tracht Prügel verspräche mehr als der beste Psychologe. Aber ich gehe hin, erstens weil es mich interessiert, zweitens weil ich nicht sicher bin, ob ich nicht doch daran glaube, so wie ich an Gott glaube, denn wenn alles andere versagt bin ich nahe daran zu beten, um auch dieses versucht zu haben.

 

Als ich hinkam waren bereits einige Frauen mit ihren Kindern anwesend, ich grüße höflich, wie im Wartezimmer und bin nahe daran zu fragen, wer ist die Letzte bitte? Meine Tochter ist noch nicht da, sie kommt direkt vom Schultheater, und ich habe Angst, daß sie sich verspätet. So alleine komme ich mir auch sinnlos vor, hilflos gegen die Mütter, die alle ein Kind mithaben. Ich gehe wieder ins Treppenhaus, schaue über die Brüstung die drei Treppen hinab, in der Hoffnung sie käme früher, wenn ich ihr entgegensehe. Endlich als wir gebeten werden weiterzukommen, kommt sie angerannt. Wir betreten einen Büroraum und gruppieren uns formlos um den Tisch einer Sitzgruppe. Der Psychologe und eine junge Kollegin setzen sich ebenfalls.

 

Dann Schweigen. Ich glaube jeder wartet auf den Beginn der Vorstellung. Aber nichts. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Die vier Kinder sitzen stumm und steif, die Mütter schauen vorsichtig in die Runde. Ich möchte rauchen, auf dem Tisch steht ein Aschenbecher, es ist also vorgesehen denke ich, aber ich traue mich nicht. Ich habe Angst die Erste zu sein die irgendeine Aktivität setzt. Das Schweigen dauert an. Also spiele ich mit meinen Fingern und versuche den direkten Blicken anderer auszuweichen. Ich glaube jeder von uns erwartet von den Psychologen, daß sie irgendwie anfangen, daß sie irgendwas anfangen, aber sie schweigen und warten. Und dann denke ich, daß das Absicht ist, daß das sehr wohl zu ihren Vorstellungen gehört, daß sie warten was sich entwickelt, weil sie nicht unser Lehrer sind und wir nicht ihre Schüler, sie nicht die Vortragenden und wir nicht die Zuhörer sondern, daß wir alle eine Gruppe sind, oder besser gesagt, eine werden sollten.

 

„Und wie geht es jetzt weiter?“ unterbricht er plötzlich die Stille. Innerliches Schulterzucken aller Anwesenden, dann wieder Schweigen und Warten. Ich denke zu diesem Zeitpunkt, daß keiner von uns gewohnt ist in einer gleichberechtigten Gruppe zu agieren, daß jeder wartet, daß einer anschafft was zu tun sei, und daß die anderen es mit mehr oder weniger Widerwillen auch tun. Ich glaube zu dem Zeitpunkt hat der Psychologe gemerkt, daß sein Versuch zunächst gelungen oder gescheitert ist, je nach dem, was er vorher erwartet hat.

 

Und er beginnt: „Wie wär’s, wenn wir uns jetzt einmal vorstellen damit wir wissen wer wir alle sind?“ Stumme Zustimmung. Er fragt den Buben zu seiner Rechten: „Willst du anfangen?“ „Na ja, ich heiße Bernhard, bin zwölf Jahre alt und gehe in die Mittelschule.“ Nächster: „Ich bin der Hans, bin 13 und gehe in die Sporthauptschule.“ „Ich bin die Regina, bin 12 Jahre alt und gehe in die 3.Klasse Mittelschule.“ Zum Schluß: „Ich heiße Claudia, bin 12 Jahre und gehe in die Hauptschule.“ Der Psychologe: „Und wie wollen wir die Muttis nennen?“ Allgemeines Achselzucken. Der Psychologe meint, wir könnten die Vornamen benützen, fragt ob alle einverstanden sind und alle stimmen zu. Ich bin sicher, daß sich sowieso niemand getraut hätte abzulehnen. Also noch einmal dasselbe. „Ich heiße Brigitte und bin die Mutter vom Bernhard.“ „Monika, ich bin die Mutti von der Regina.“ „Herta, Mutti von der Claudia,“ „Elfi, und ich bin die Mutti vom Hans.“

 

Dann wieder Schweigen. Jetzt sagt der Psychologe: „Ich bin der Michael und das ist die Traude! Dann fordert Traude einen der Buben auf zu erzählen, warum er hier sei und was für Schwierigkeiten er habe. „Na ja!“ sagt Hans: „So in der Schule, ich mach halt keine Aufgaben und dann krieg ich schlechte Noten.“ „Und was sagen deine Lehrer dazu? Bekommst du Strafen dafür?“ „Na das weniger.“ „Was sonst?“ „Na ja, sie schreien halt herum und so.“ „Und zu Hause, da ist alles in Ordnung?“ Hans wirft einen versteckten Blick zu seiner Mutter: „Zu Hause schon.“ „Da stört dich gar nichts?“ „Doch, daß ich immer so zeitlich zu Hause sein muß.“ „Wann ist das immer?“ „So zwischen 7 und 8.“ „Das ist ja nicht allzu zeitlich.“ „Ja, aber die Susanne darf ausbleiben so lange sie will!“ „Wer ist Susanne?“ „Meine Schwester.“ „Wie alt ist sie?“ „15“, Elfi wirft ein: „16!“ Hans: „15!“. Elfi lacht: „Sie wird 16.“ Und plötzlich fangen alle an nachzurechnen wie alt Susanne wirklich ist. Zu ihrem 16. Geburtstag fehlen ihr noch drei Monate und drei Tage. Für Hansi’s Vorstellung ist sie 15 und er 14, für ihn fast gleich alt. Nach Meinung der Mutter ist er 13 vorbei und Susanne wird 16, was immerhin ein Altersunterschied von fast 3 Jahren wäre und die Sachlage völlig verändert. „Außerdem darf die Große (Elfi sagt immer die Große, wenn sie von ihrer Tochter spricht) auch nur bis 10 Uhr ausbleiben“. Hans widerspricht jetzt relativ heftig und plötzlich entsteht ein Streitgespräch zwischen Mutter und Sohn, in dessen Mittelpunkt Susanne steht, von der Hans glaubt, daß sie bevorzugt wird, und von der die Mutter sagt, daß es schließlich überhaupt keine Probleme mit ihrer Großen gäbe. Herta wirft plötzlich ein, ob es das gibt, ein Kind ohne Probleme, sie habe schließlich fünf und mit jedem Sorgen. Elfi beharrt darauf, daß Susanne keinerlei Schwierigkeiten mache und ich beginne darüber nachzudenken ob sie das Mädchen wirklich ungerechterweise bevorzugt, oder ob es vielleicht doch ein Engel sei, neben dem die harmlosen Fehler des Buben tiefschwarz wirken. Es wäre interessant Susanne kennen zu lernen.

 

Und immer mehr gewinne ich den Eindruck, daß Hans, der vorhin in einem harmlosen Plauderton über seine Schwierigkeiten in der Schule gesprochen hat, um dann zu sagen zu Hause wäre alles in Ordnung weit wesentlichere Probleme im Elternhaus hat, da er sich darüber sichtlich ernsthaft aufregte. Auf jeden Fall war der Bann gebrochen und alle beteiligten sich an dem Gespräch. Ich merke zwar, daß keiner noch so richtig aus sich herausgehen kann, und daß alle Probleme nur an der Oberfläche berührt werden, aber ich finde das ganz natürlich, ich wundere mich sogar daß bereits nach einer Stunde völlig fremde Menschen voreinander relativ intime Dinge überhaupt zur Sprache bringen.

 

Nach fast zwei Stunden sieht Michael auf die Uhr und beendet den Abend indem er mit allen einen neuen Termin ausmacht. Es tut mir fast ein wenig leid, daß es schon zu Ende ist, aber ich merke auch, daß die Kinder quengelig werden, daß ihre Konzentration nachläßt und damit auch ihr Interesse. Alle diese fremden Leute, die einander vor fast zwei Stunden schüchtern „Guten Abend“ gewünscht hatten, schütteln einander nun die Hände und verabschieden sich wie alte Bekannte. Vielleicht ist das der größte Erfolg dieses ersten Abends.

(c)sarah66