Kriegskinder oder Pferdefleisch in Dosen

Kriegskinder, das sind wir, Menschen, die der Krieg ausgespuckt hat in seiner sinnlosen Produktionsfreudigkeit an neuem Leben, um das zu ersetzen, das er vernichtet. Kinder die gezeugt wurden in den kurzen Stunden blinder Glückseligkeit zwischen Bombenhagel und Schlachtenlärm. Kinder, die nicht um ihrer selbst Willen gezeugt wurden, sondern aus dem einzigen Lustempfinden, das sich die Menschen noch schenken konnten, ehe ihnen das Dach auf den Kopf fiel. Kinder von denen niemand wusste, ob sie überhaupt das Licht der Welt erblicken würden, ob es dann noch ein Licht geben würde auf dieser Welt, die aus den Fugen geraten war. Kinder, deren Väter blutend verendeten, ehe sie noch geboren waren, Kinder, die noch „Heil Hitler“ sagen lernten, ehe sie „Mama“ sagen konnten, Kinder, die man nachts in die Luftschutzkeller schleppte, denen man ein Namensschild umhängte, um sie wieder zu finden in dem grausigen Wirrwarr zerbombter Häuser. Kinder, die Tote sahen, ehe sie zu leben begannen.


Unsere Kinderstube waren Bombenruinen, unsere Amme Angst und Verzweiflung. Unser Schlaflied sangen Bomben und Gewehrschüsse. Unser Weinen wurde übertönt von den tausendfachen Tränen der Frauen um ihre Männer und der Mütter um ihre gefallenen Söhne.


Heute, da man weiß, wie wichtig gerade diese ersten Jahre eines Kindes für seine spätere Entwicklung sind, darf es uns nicht wundern, dass uns bereits diese ersten Jahre verdorben haben für ein ganzes Leben, dass wir nicht fähig waren uns aus der Sinnlosigkeit zu befreien, in der wir gezeugt wurden, und das eben diese Sinnlosigkeit unser ganzes Leben bestimmen würde. Menschen sollten wir werden, aber nichts war menschlich auf der Welt, die wir erblickten. Chaos rund um uns, Chaos in der eigenen Familie und Chaos in den großen fragenden Augen der Kinder, die nie begreifen lernten, was ihre eigenen Eltern nicht mehr begreifen konnten. Tränen, weil der Führer starb, Tränen, weil der Vater fiel, Tränen vor Hunger, vor Kälte und vor Ratlosigkeit. Tränen, die jede Lebensfreude erstickten, die uns jede Chance nahmen, die uns begleiten sollten, wie andere Kinder die Erinnerung an den blühenden Garten ihrer Kindheit.


Dann kam die Ruhe. Eine unendliche trügerische Ruhe. Kein Flugzeug mehr, keine Bomben, nur mehr Rauch aus den Ruinen. Aus den Ruinen der Häuser und der Menschen. Nichts war mehr in Ordnung, keine Familie, die nichts verloren hätte. Einen Vater zu haben war schon etwas Besonderes, eine Wohnung und etwas zu essen- und dazwischen wir, die Kinder des Krieges.


Und dann kam die Bilanz. Man konnte die Toten zählen, die zerstörten Häuser, man sah deutlich die Schäden an den Überlebenden, zuerst kamen die Invaliden, die körperlichen Krüppel, sie konnte man nicht übersehen, aber die Schäden an den Kindern, die diese makabere Kinderstube an ihrer Seele, an ihren Nerven angerichtet hatte, die waren nicht so offensichtlich, darüber gab es keine Statistik, sie sollten sich erst nach Jahren auswirken, als diese Kinder heranwuchsen, als die Halbstarken kamen, die Jugendkriminalität nie gekannte Größenordnungen erreichte, als Ehescheidungen an der Tagesordnung standen. Zerrissene Familien, egoistische Karrieremenschen, hilflose Neurotiker, das ist aus dieser Generation geworden. Eine Generation von Versagern, der nicht Liebe in die Wiege gelegt wurde, sondern Krieg.


Aber es ging aufwärts. Erstaunlich schnell. Sie bauten Häuser, die in den Himmel ragten, mit kahlen Fassaden, mit kleinen Wohnungen, mit kleinen Fenstern, wahrscheinlich weil man sich noch nicht traute der zerstörten Welt rings herum voll ins Angesicht zu sehen. Wohnungen mit winzigen Badezimmern, alles war verschlossen hinter den Türen, nichts hatten die Menschen gemeinsam, die diese Häuser bewohnten, die sahen sich kaum, sprachen kaum miteinander, einer misstraute dem anderen, versperrte sein bisschen Hab und Gut, versperrte seine Gedanken und Wünsche, seine Vergangenheit und seine Probleme.


Ich erinnere mich, dass wir Kinder etwas wehmütig zusahen, wie eine Ruine nach der anderen verschwand, wie uns ein Spielplatz nach dem anderen genommen wurde. Ich weiß noch, wie wir mit Taschenlampen, und zwar ganz eigenartigen Taschenlampen mit Dynamos, um Batterien zu sparen, Bunker nach Geistern durchsuchten, wie wir auf verschneiten Bombentrichtern Rutschen bauten oder nach Schätzen gruben. Jahrzehnte danach erinnerte sich ein Jugendfreund daran, dass ihn meine Schwester gewarnt hätte, eine bestimmte Ruine zu betreten, weil darinnen Moorlis wären. Moorlis, das waren die Neger, die Neger der Besatzungsmacht und deren Andenken, das sie zurückließen, das Frauen gebaren, die sich ihnen für ein paar Nylons hingaben, und die nun mit uns aufwuchsen. Man schenkte uns entzückende Negerpuppen damit wir diese Mischlinge lieben lernen sollten, vielleicht auch aus schlechtem Gewissen derer, die sie erzeugten, ohne den Rassenhass jemals ganz überwunden zu haben der ihnen jahrelang eingeimpft wurde.


Besatzungszeit, das hieß für uns Kinder eine Unmenge von Soldaten verschiedener Nationalitäten, sich vor den Russen zu fürchten, und von den Amis Geschenke zu bekommen. Pferdefleisch in Dosen, Kaugummi und Coca Cola. In dieser Zeit gingen wir zur Schule, lernten dass wir Österreich zu lieben hätten, dass wir an Gott glauben sollten und das Einmaleins. Niemand hat uns je etwas Wesentliches beigebracht über den Sinn des Lebens, nichts was wir brauchen konnten für das Leben hinter dem Schulhaus. Niemand traute sich, niemand konnte es, alle die uns lehrten waren selbst noch verwirrt und mutlos. Es wurde einfach darauf vergessen uns zu sagen, dass es neben dem materiellen Aufschwung, den die Zeit des Wiederaufbaues mit sich brachte, noch menschliche Probleme gab, deren Lösung weit mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als eine Stadt aufzubauen. Verstümmelte Familien, Väter auf Fotos, die wir lieben mussten, ohne sie jemals kennen gelernt zu haben. Die nie die Chance hatten, Menschen zu werden, Menschen mit Fehlern und Schwächen, die uns den Weg gezeigt hätten in ein natürliches Leben mit Höhen und Tiefen. Eine Welt von Helden, an deren ruhmreiche Vergangenheit und fehlerlose Lauterkeit wir nie heranreichen konnten, weil wir lebten und älter wurden, sie aber starben, als Helden am Schlachtfeld, sich aber nie beweisen mussten in einem grauen Alltag, mit alltäglichen Sorgen. Sie alle waren jung und schön als sie fielen, und lebten in der Erinnerung unserer Mütter als das, was sie von ihnen besaßen, glückselige Umarmungen kurzer Urlaubstage, liebevolle Feldpostbriefe, und ein Stückchen ihrer eigenen Jugend, ihren Wünschen und Hoffnungen an eine unerfüllte Zukunft. Blutleere Fotos für uns Kinder, die uns durch ihre Reinheit und Stärke beschämten, als wir bloß ein Stückchen Zucker stehlen wollten und dabei bereits begriffen, dass wir durch diese Untat, das makellose Vorbild unserer Väter beschmutzten.