Mondscheinrodeln

 

 Es war in einer klaren kalten Winternacht, der erste Schiurlaub, den ich mit meinen Kindern alleine verbracht habe, nachdem mich mein Mann ein Jahr zuvor verlassen hatte. Über mir wölbt sich der dunkle Himmel. Der Mond wirft ein fahles Licht über die stille Landschaft. Kein Laut ist zu hören. Nur das Knirschen meiner Stiefel im Schnee und das eigenartige Geräusch, das die Rodel hinter mir von sich gibt, wenn sie über den Kies schleift. Hier ist die Straße gestreut. Weit unter mir liegt Schladming. Hunderte kleine Lichter schimmern durch die Nacht. Rings um mich ist alles weiß. Wie ein Märchen erscheint mir diese Landschaft, unwirklich und bezaubernd. Ich bin müde, aber es ist eine wohltuende Müdigkeit. Wie große Rauchwolken kommt der Atem aus meinem Mund. Trotz der Kälte schwitze ich. Noch vor wenigen Minuten sauste ich mit dem Schlitten von der Hochwurzen herab. Sechs Kilometer Mautstraße, dreizehn Kehren. Nichts als das Mondlicht zeigte mir den Weg durch die Dunkelheit. In jeder Kurve spürte ich winzige Eiskristalle die meine Ferse versprühte, wenn ich sie mit voller Kraft einsetzte, in meinen Augen, und sie kühlten mein erhitztes Gesicht. Bald war ich weiß wie meine einsame Umgebung. Der Fahrtwind pfiff mir um die Ohren, schluckte jedes andere Geräusch, und ich genoss dieses herrliche Erlebnis.

 

Ich glaube nicht, dass die anderen, die nach ziemlichem Alkoholgenuss laut lachend und grölend diese Abfahrt hinunterpurzelten je fühlen, wie unvergleichlich diese Nacht sein kann. Ich war die letzte an diesem Abend. Oben in der Hütte war eine Bombenstimmung, und ich hatte der Hüttenwirtin beim Servieren geholfen und nachher beim Wegräumen. Alleine diese Tätigkeit, die ich das erste Mal machte, versetzte mich schon in eine ganz eigenartige Stimmung. Während die Leute lachten und tranken, leerte ich in der kleinen verrauchten Hütte Aschenbecher aus, schenkte Glühwein aus, servierte Speckbrote, kochte Tee, wusch Gläser aus, nahm das „Fräulein noch einen Obstler“ entgegen, als hätte ich nie etwas anderes getan. Und das „Danke“ der Hüttenwirtin hätte es gar nicht gebraucht, denn mich beglückte dieser Abend. Es war alles neu für mich, ich fühlte das Leben rund um mich und ich genoss es wie ein Geschenk. So wie ich jetzt die Stille um mich genieße und selbst meine Müdigkeit. Und immer weiter stapfe ich durch den Schnee und meine Gedanken wandern weit über die weiße Landschaft, und sie suchen den, der mich dem Leben wiedergeschenkt hat, den, der mich gelehrt hat mich daran zu freuen. Und da taucht er vor meinen Gedanken auf, groß, blond und schlank und seine Augen bohren sich in die meinen, und in seinen Augen ist eine einzige Frage. Und hier mitten in dieser weißen Bergwelt, hier weiß ich es plötzlich. Und ich weiß es mit solcher Gewissheit, dass ich losschreien möchte, jetzt sofort, damit er es hört, damit diese Augen aufhören zu fragen. Ich liebe ihn, ich liebe ihn, tausend Mal möchte ich es rufen, und ein tausendfaches Echo würde es mir zurückwerfen. Es ist mir egal, wie er sich anfühlt, es ist mir egal, dass er verheiratet ist, dass ich allein sein werde, dass die anderen über mich reden werden, dass es vielleicht niemand gibt, der mich verstehen wird, es ist mir gleichgültig. Ich liebe ihn, und das ist das einzige was zählt, und ich werde es ihm sagen, ich werde es ihm zeigen und seine unendliche Geduld soll belohnt werden.

 

Bald muss ich von der Straße abzweigen, und das letzte Stück trägt mich meine Rodel wieder über die Schiabfahrt talwärts. Wieder rauscht der Fahrtwind um meine Ohren und kühlt mein erhitztes Gemüt, und ich weiß, dass dieser Abend wertvoll war, dass er mich dem Leben näher gebracht hat und ich bin dankbar dafür. Ich habe etwas dazugelernt. Die Einsamkeit nicht nur zu ertragen, sondern in der Einsamkeit glücklich zu sein.

(c)sarah66